Jule Epp

Ein weiterer Aspergervorfall - Erfahrungsbericht eines Autistens

16/08/2020

Noch ein paar schlechte Erinnerungen. Mir fällt auf, dass es hilfreich ist, sie aufzuschreiben. Es fühlt sich so an, als wäre der Eiserne Vorhang gefallen, seitdem ich die Schule verlassen habe. Ich erinnere mich jetzt an Sachen, an die ich mich vorher nicht erinnern konnte:

Hintergrundinformation:

Dieser Vorfall ereignete sich in der 3. Klasse. Ich war 8 Jahre alt. Es war kurz nach den Sommerferien. Meine Mutter hatte mich 2 oder 3 Wochen vor den Ferien von der Schule ferngehalten, weil es mir in der Schule so schlecht ging. Meine Mutter wollte mich beschützen. Sie hoffte, dass es nach einer längeren Pause besser werden würde. Doch das war es nicht. Es war noch schlimmer…

Dann geschah folgendes:

Ich saß in der Schule an meinem Schreibtisch.

(Mein Schreibtisch befand sich vorne in der Klasse, weil ich mich nicht auf den Klassenlehrer/-lehrerin konzentrieren konnte. Das schien manchmal zu helfen.)

Die Schulhelferin saß neben mir.

(Sie saß oft neben mir, sodass ich mich besser konzentrieren und meine Arbeit erledigen konnte.)

Ich habe nicht auf den Lehrer/Lehrerin geachtet.

(Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits die ganze Zeit über überbelastet. Wenn ich überbelastet werde, schalte ich mich vollkommen ab. Wenn ich abgeschaltet bin, fühle mich, als würde ich im Weltall schweben oder als wäre ich gleichzeitig betrunken und angeturnt - das weiß ich eigentlich nicht, da ich nicht weiß, wie sich Alkohol und Drogen anfühlen, aber so stelle ich mir das vor. Ich fühlte mich benommen und ganz in meiner eigenen Welt. Wenn ich abwesend bin, fühle ich nichts und nichts gelingt von außen in meine Welt. Manchmal, wenn ich in meiner Welt bin, sehe ich Filme in meinem Kopf und erzähle mir Witze. Deshalb fange ich manchmal an zu lachen und die Leute denken, mir geht es gut. Sie merken nicht, dass ich versuche, der Welt zu entkommen, weil es mir zu viel ist.)

Ich spielte mit meinen Stiften und meinem Radiergummi.

(Ich brauchte etwas womit ich mit den Händen spielen könnte. Das brauche ich oft. Ich                 fühle gerne Dinge. Es beruhigt mich. Ich kann mich dann manchmal besser konzentrieren. Deshalb hatte meine Mutter immer „fidgets“ für mich. Ich bekam jedoch oft Ärger in der Schule, weil ich meinen Radiergummi gepflückt habe und Unordnung machte. Irgendwie konnte ich mich nicht aufhalten, besonders wenn ich innerlich abwesend war. Wenn ich abschalte, weiß ich nicht wirklich, was ich tue.)

Die Schulhelferin rief mich mehrmals, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.

(Das hat sie mir später gesagt. Aber ich war total verstört, also konnte ich sie nicht hören, obwohl sie direkt neben mir saß.)

Ich habe sie nicht gehört.

(Ich musste mich „ausschalten", weil ich überbelastet war, sie dachte jedoch, ich würde sie absichtlich ignorieren.)

Sie wurde immer lauter und dann schüttelte sie mich mit beiden Händen und schrie mich an.

(Das fühlte sich an wie eine plötzliche, gewaltige Explosion direkt vor meinem Gesicht. Ich wusste nicht, was los war!)

Ich flippte aus.

(Die Panik brach in mir völlig aus.)

Ich schrie und versuchte sie anzugreifen, indem ich versucht habe, sie zu schlagen und treten.

(Ich dachte, sie würde MICH körperlich angreifen!)

Sie schrie mich weiterhin an, packte mich am Arm und zog mich aus dem Klassenzimmer.

(Ihr Schreien und Packen fügten immer mehr Explosionen in mein Gehirn hinzu!)

Sie schrie mich weiterhin im Flur an und ich griff sie weiterhin an.

(Es wurde immer schlimmer und schlimmer. Es fühlte sich an, als gäbe es keinen Ausweg und es würde niemals enden.)

Ich fühlte mich völlig außer Kontrolle.

(Das fühlt sich immer so an, als würde ich sterben.)

Ich erinnere mich nicht einmal, wie es endete.

(Ich denke, das war mehr, als mein Gehirn verarbeiten konnte. Normalerweise erinnere ich mich an alles. Aber in diesem Falle nicht.)

 

Etwa zur selben Zeit:

Ich musste auf die Toilette, aber ich war lange weg.

(Ich musste wirklich auf die Toilette, ich bin aber auch manchmal auf die Toilette gegangen, um Zeit für mich zu haben. Ich wusste nicht, wo ich sonst Zeit für mich bekommen konnte. Ich musste den Krach und dem Druck entkommen.) 

Ich merkte, dass ich nicht in den Klassenraum zurückkehren konnte und fing an, durch den Flur zu wandern.

(Ich konnte den Druck nicht ertragen, mich konzentrieren und arbeiten zu müssen. Es machte mich so erschöpft. Ich konnte auch nicht still sitzen. Ich hatte das Gefühl, mich BEWEGEN zu müssen. Ich fühlte eine große Spannung in mir.)

Als die Schulhelferin mich herumlaufend sah, war sie wütend. Sie packte mich am Arm und zog mich den ganzen Weg zurück zur Klassentür.

(Als sie mich so packte und anfing, mich den Flur hinunterzuziehen, fühlte ich, wie es sich anfühlt, wie ich mir vorstelle, vergewaltigt zu werden. Als würde sie die Kontrolle über meinen Körper übernehmen! Es war mehr als ich jemals zuvor erlebt hatte!)

Sie fing an zu schreien, dass ich zurück ins Klassenzimmer gehen musste. Es ist Schulzeit.

(Es fiel mir unmöglich, jetzt irgendetwas zu tun! Ich war total verängstigt und überbelastet. Und Überbelastung war der Grund, warum ich überhaupt in den Flur gewesen bin!)

Sie zog mich ins Klassenzimmer und ich fing an zu schreien und sie anzugreifen.

(Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte! Ich fühlte mich so hilflos. Es fühlte sich an, als würde sie mich zwingen, in den Krieg zu kämpfen!) 

Sie schrie mich weiterhin an, aber jetzt fühlte ich mich so außer Kontrolle, dass ich auf keinen Fall in den Klassenraum zurückkehren konnte.

(Es fühlte sich wieder so an, als gäbe es keinen Ausweg. Als würde mich jemand umbringen, und mein Körper ums Überleben kämpfte)

Sie haben meine Mutter angerufen und meine Mutter hat mich nach Hause gebracht.

(Als meine Mutter gekommen ist, fühlte ich mich verloren. Wie tot.)

 

Hintergrundinformation:

Dieser Vorfall ereignete sich etwa einen Monat später. Die Schule ist furchtbar gelaufen. Ich hatte jeden Tag mehrere Zwischenfälle. Ich schaltete mich immer mehr aus und wurde immer leichter gereizt. Ich habe mich auf den Kopf geschlagen und mich viel die Hand gebissen. Die Schulhelferin hat gedacht, dass wenn ich mich auf den Kopf geschlagen habe, versuche ich sie dazu zu bringen, sich schlecht zu fühlen, sodass sie das tut, was ich wolle. Dass ich es getan habe, damit sie mit mir Mitleid hat. Also würde sie es einfach ignorieren.

 

Dann geschah dieser Vorfall:

Ich bin auf die Toilette gegangen und danach nicht mehr ins Klassenzimmer zurückgekehrt.

(Ich war total in meiner eigenen Welt. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich tue oder wie die Schulhelferin reagieren würde.) 

Ich ging in einen Teilungsraum und fing an, mit dem Sand zu spielen, der dort war.

(Der Sand war für mich wie ein Rettungsboot. Ich legte gern meine Hände in den Sand und ließ den Sand durch meine Finger fallen. Das beruhigte mich. Ich hatte auch eine Schaufel und machte Muster im Sand. Das beruhigte mich auch.)

Meine Schulhelferin hat mich gefunden und war wütend.

(Ich war erstmals geschockt, weil ich aus meiner Welt gerissen wurde. Und ich hatte sofort Angst.)

Sie sagte mir, ich solle arbeiten, nicht spielen.

(Aber ich hatte das Gefühl, dass ich mich mehr beruhigen musste!)

Ich sagte, ich wolle weiter mit dem Sand spielen.

(Sie dachte, ich würde mich weigern zu arbeiten, aber für mich fühlte es sich an, als ob ich unbedingt mit dem Sand spielen musste.)

Sie sagte mir, ich hätte Arbeit zu erledigen. Schule ist für die Arbeit nicht zum Spielen.

(Ich glaube nicht, dass ich zu dieser Zeit „arbeiten“ konnte. Ich fühlte mich immer zu belastet. Ich konnte nicht auf den Lehrer hören. Ich konnte nicht still sitzen und ruhig sein. Ich konnte mich nicht konzentrieren oder sogar denken. Ich musste mich befreien.)

Ich sagte ihr, dass ich weiter mit dem Sand spielen möchte.

(Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mich nicht erklären. Ich wusste nur, dass ich den Sand brauchte.)

Sie schrie mich an: "Hörst du mir zu?!"

(Jetzt wird es heftig. Sie war laut und steht direkt vor mir. Ich habe immer mehr Angst vor ihr. Es fühlt sich an, als würde sie mich angreifen.)

Ich fing an zurück zu schreien: „Aber ich will weiterspielen!"

(Wahrscheinlich meinte ich: "Ich MUSS weiterspielen!" So fühlte es sich an. Ich konnte einen zwanghaften Drang spüren. Ich fing an, mich verzweifelt zu fühlen.) 

"Was du tun MUSST, ist ARBEITEN!", schrie sie mich an.

(Sie schrie so laut, dass ich mich fühlte, als würde mich jemand auf den Kopf schlagen, ohne mich vorzubereiten. Ich war völlig geschockt.)

Dann geriet es außer Kontrolle. Ich fing an anzugreifen: schlagen, treten, beißen. Sie und mich selbst.

(Ich fühlte mich tatsächlich in Panik. Wie ein wildes Tier. In diesem Alter habe ich mich selbst angegriffen, weil ich etwas finden musste, irgendetwas, um anzugreifen. Entweder sie oder ich, war egal.)

Sie wurde immer lauter.

(Es fühlte sich jetzt wie ein Krieg an.)

Ich fühlt mich jetzt völlig außer Kontrolle.

(Es fühlte sich an wie ein wilder Tornado in meinem Kopf.)

Sie packte mich am Arm und versuchte mich körperlich davon abzuhalten, sie zu schlagen.

(Aber das fühlte sich einfach so an, als würde sie wieder die Kontrolle über mich übernehmen! Wie zuvor!)

Ich biss mich so fest in die Hand, dass es anfing zu bluten.

(Ich konnte den Schmerz nicht fühlen. Ich musste nur hart beißen!)

Dieser schreckliche Moment dauerte lange. Es war wie ein Albtraum.

(Das war der längste Zusammenbruch, den ich je hatte. Ich schätze, er dauerte eine ¾ Stunde. Ich habe so doll geschrien, dass ich keine Luft bekommen konnte. Schweiß tropfte über mein Gesicht. Ich fühlte mich so, als würde ich lebendig begraben         werden. Ich hatte das Gefühl, ich würde sterben oder sogar, dass ich sterben wollte, damit es aufhört. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, aber es hat nicht aufgehört.) 

Schließlich kam meine Mutter, um mich abzuholen.

(Ich war bis dahin völlig erschöpft. Ich fühlte mich wie hirntot. Aber ich fühlte mich auch aufgerissen. Danach war ich nie wieder der selbe. Ich erinnere mich, meiner Mutter erzählt zu haben, dass ein Teil von mir permanent gestorben ist. Danach fühlte es sich an,           als wäre ich noch empfindlicher und noch leichter belastet als zuvor. Als wäre eine Hautschicht von mir abgezogen worden. Also war ich oft total abwesend und schrie die ganze Zeit.)

Meine Mutter hat mich danach nicht mehr zur Schule geschickt. Die Autistenspezialistinnen forderten die Schulhelferin auf, solche Vorfälle nicht noch einmal entstehen zu lassen. Also musste meine Mutter mich zurück zur Schule schicken. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich im kommenden Monat eine neue Sonderklasse für Asperger-Kinder besuche. Aber das hat sie mir damals nicht gesagt, weil sie dachte, ich würde in Panik geraten. Obwohl das Leben schrecklich war, hatte ich immer solche Angst vor Veränderungen.

Anfangs hatte ich meine Schulhelferin wirklich geliebt. Jetzt habe ich sie total gehasst. Sie war für mich wie Hitler. Und trotzdem hatte ich Angst, sie zu verlassen.

Aaron Tyrtania ©2019

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